1965 ging die Zeit des Zieglerlebens in Lieme zu Ende.
Über 100 Jahre lang hatten Liemer Ziegler als Wanderarbeiter in Nord-, West- und Mitteldeutschland, aber auch in Holland, Dänemark, Schweden und Russisch- Polen gearbeitet. Mit ihrer Arbeit haben sie dazu beigetragen, dass aus Lieme allmählich ein wohlhabendes Zieglerdorf wurde.
Traditionsgemäß nahmen die Ziegler vor ihrer Abreise im Frühjahr an einem Ziegler- Abschieds- Gottesdienst in der Liemer Kirche teil und feierten dann noch einmal mit ihren Angehörigen das Abendmahl.
In den Tagen danach reisten die Ziegler dann zu ihren Ziegeleien in der Fremde, was bis zum Bau der Köln- Mindener- Eisenbahn 1846 einen langen Fußmarsch bedeutete. Nach Norddeutschland fuhr man mit den Weserschiffen.
Gerade den jungen Zieglern fiel der Abschied von Familie und Heimat noch sehr schwer und nicht wenige tranken sich Mut an, um das besser ertragen zu können.
Von einem Zieglerabschied im Weserhafen von Vlotho um 1845 berichtete Robert Geißler in seinem 1864 erschienenen Buch „Die Weser“.
„Das Dampfschiff war in Vlotho in der letzten Vormittagshälfte angekommen. …
In Vlotho waren die Ufer so dicht von Menschen besetzt, als stände eine Völkerwanderung bevor. Es war ein Zug von fast 700 jener Hollandgänger, jeder mit einem Quersacke, dessen hervorragendster Bestandteil, eine Schnapsflasche,
oben aufgesteckt war und lustig und liederlich in die Welt schaute. Es kam als Vorläufer unserer neuen Reisegefährten schon ein schnapsgesättigter Westwind zu uns herüber, als ob eine Spritniederlage ihre Tore geöffnet hätte. Glücklicherweise
blieb es den Kajütenpassagieren jeden Augenblick frei, sich in die privilegierten Salonräume zurückzuziehen, sonst wäre die Aussicht, alle diese Neulinge an Bord zu bekommen, vielleicht für manche ängstliche Gemüter unerträglich
gewesen.
Es sind Männer mit schon ergrauenden Haaren, die meisten jedoch junge Leute; unter diesen viele kaum dem Knabenalter entwachsen. Eine Menge Weiber und Mädchen haben die Abzüglinge begleitet, und es ist kaum ein erträglich hübsches Gesicht darunter, kaum eine blühende Gestalt. Einige weinen und suchen den Ihrigen, Männern, Verlobten und Söhnen, nochmal nahe zu kommen, andere stehen stumm wie bei etwas Unvermeidlichem da. Das Landungsbrett wird vom Schiff aus ans Ufer gelegt, und der ganze Haufen drängt gegen das Ufer, so dass ihr sofort ein Dutzend bis an die Knie ins Wasser rutscht. Ein wahres Höllengeschrei, aus Freudenjauchzen bestehend, geht in einer Ladung von Schnaps unter, die aus Hunderten von Flaschen in die schreienden Kehlen strömt.
Wie es möglich ist, den ganzen Tross auf den Dampfer zu bringen, keiner von den Passagieren begreift es. Aber schon wälzt sich das Heer heran und richtet sich häuslich ein, das heißt, sie legen sich nieder, wohin sie kommen. Vom Agenten des Lloyd in Vlotho werden sie gezählt und nach der Stückzahl eingeliefert. Die übrigen Passagiere stellen sich auf gutgelegene Beobachtungspunkte, und das Schiff setzt sich, tiefgehend und scharfrauchend, in Bewegung“.
Sicherlich entspricht dieser Bericht im wesentlichen den Tatsachen, scheint aber im Ganzen doch ein wenig übertrieben.
Für manche Ziegler war die Abreise im Frühjahr ein Abschied für immer. Einige blieben freiwillig in der Fremde, andere starben dort. Solche Zieglerschicksale sind in den Kirchenbüchern überliefert:
„Im Alter von 51 Jahren verunglückte der Ziegler und Einlieger Franz Konrad Friedrich Steinmeier am 20.08.1863 in Oldersummerhamrich, Gemeinde Olderaum (Amt Emden). Er wurde im Ziegelofen durch einen umstürzenden Stapel Ziegelsteine erschlagen“.
„Am 23.07.1872 verstarb der Ziegler Friedrich Anton Kluckhuhn in Kenoschti in Bessarabien (Russisch- Polen) an Typhus. Die Todesnachricht und der Totenschein wurden der Witwe des Verstorbenen vom deutschen Botschafter in St. Petersburg
übermittelt“.
Einer Cholera- Epidemie fielen 1873 zwei Ziegler in Mitteldeutschland zum Opfer:
„Am 31.08.1873 starb in Magdeburg der Ziegler und Einlieger Friedrich Ernst Reese im Alter von 27 Jahren an der Cholera.
Einen Tag später, am 01.09.1873 starb in Neustadt bei Magdeburg der Ziegler Simon Hermann Conrad Bruns, ebenfalls an der Cholera. Beide waren erst wenige Jahre verheiratet und hinterließen Frau und Kinder“.
Solche Schicksale machen verständlich, weshalb sich die lippische Landesregierung unter Leitung des Landespräsidenten Heinrich Drake nach dem 1. Weltkrieg mit aller Energie bemühte, die Wanderarbeit abzuschaffen.
(Quelle: F. Starke – „Lieme – Eine Dorfgeschichte in Einzeldarstellungen“)